BIS – NACH AFRIKA
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Die Straße in der ich groß geworden bin, ist für mich die Straße in der ich klein war. In der ich frei war.
Meine Straße und ein paar Ecken, das war meine kleine, heile Welt und ich war glücklich und hatte noch keine Vorstellung davon, wie groß und unendlichen diese Welt eigentlich war.
Manchmal spuckte ich mit meiner sommersprossigen Freundin Lea aus meinem Dachschrägenfenster (auf das nachts immer so schön der Regen trommelte, wenn es draußen stürmte) so weit wir konnten – und wenn meine Mutter fragte, was wir da machen würden – deuteten wir nur kichernd auf die Berge in der Ferne und riefen „ Wir spucken bis nach Afrika!“ – und das glaubten wir auch – und meine Mutter ließ uns lächelnd in dem Glauben.
In meiner Straße neben meinem Haus, lebte ein Junge mit weizenblonden Haaren und himmelblauen Augen – sein Küchenfenster lag schräg gegenüber von meinem Balkon und eines Tages, warf er mir eine Schnur herüber und wir banden eine kleine Kiste daran, in der er mir jeden Tag eine kleine Überaschungs-Ei–Figur schickte, die ich glücklich in meinem Setzkasten sammelte.
In meiner Straße gab es ein Antiquariat – das für mich der magischste Ort bis dahin war – und nach der Schule trat ich manchmal durch die kleine Tür mit der leise klingelnden Glocke nur, um kurz das alte Holz, die staubigen Polster und die süße Politur zu schnuppern. Und als ich dem alten Mann mit den krausen, weißen Haaren und dem mürrischen Blick einmal meine winzigen Puppenhausmöbel brachte und ihn bat sie zu polstern – da sah ich ihn das erste mal lächeln und er bezog sie mit rosa Samt und schenkte mir eine Schokolade dazu.
In meiner Straße gab es einen Bäcker, an dem ich jeden Samstag Brötchen holte – vorallem Sesam, weil ich die so liebte – mit frischer Pfefferwurst vom Markt am Brunnen – weil das die Samstagskombi war, die mein Frühstück so perfekt machte und manchmal, liefen wir nach der Schule einen Umweg zu dem Bäcker und wir holten uns für 50cent prallgefüllte Zuckertüten mit sauern Fruchtgummis, die wir grinsend in unsere gierigen Münder stopften und wir schlossen Wetten darüber, wer am meisten auf einmal schaffen würde – währen unsere Füße ins kalte Wasser des besagten Stadtbrunnens baummelten, der auf dem Platz in der Mitte der Straße stand.
Gegenüber von meinem Haus gab es eine Telefonzelle – in die quetschten wir uns manchmal kichernd zu viert, wenn wir nach dem Bäcker noch ein paar Cent übrig hatten und wir fuhren mit geschlossenen Augen und zuckrigsüß-klebenden Fingern über die fremden Nummern, von der wir bei „Stop“ eine wählten und mit frechem Ernst fragten – ob ein blassblaukarierter Hund gefunden wurde – und wir fanden uns wahnsinnig witzig – und irgendwie waren wir es auch.
Außerdem gab es gegenüber meines Hauses, noch einen italienischen Feinkostladen und Patricia die braungelockte Inhaberin rief immer „Bella Picolina“, wenn ich kam um meine Lieblingsnudeln bei ihr zu kaufen, die wie kleine Muscheln geformt waren – weil man die immer so schön wie kleine Schiffchen mit Tomatensoße füllen und über den Teller schwimmen lassen konnte – und man sie im Supermarkt unten an der Straße nicht bekam.
Des weiteren gab es in meiner Straße einen Blumenladen – der im Sommer die ganze Straße erhellte und in den schillerndsten Farben färbte – und ich war so stolz darauf, dass er unten in meinem Haus war – und manchmal, schlüpfte ich durch unsere Kellerverbindungstür zu Susanne der Blumenverkäuferin in ihre Werkstätte und flocht kleine Blumengestecke aus ihrem Restblumenmüll und erzählte ihr mit funkelnden Augen, dass auch ich mal eine Blumenverkäuferin werden würde – und ich glaubte es – und sie lächelte und ließ mich in dem Glauben und strich mir liebevoll durch meine braunen Kringellocken.
In der Straße in der ich groß wurde – habe ich viel erlebt – der erste Kuss vor der Haustür mit der weißen Zwei, die so lange mein Zuhause war, das erste mal Hasch rauchen, auf der kleinen Treppe an der Litfassäule bei der Telefonzelle – und wir zerkleinerten das Hasch aufgeregt mit dem chinesischen Küchenmesser meiner Mutter, weil wir es nicht besser wussten. Das erste mal im Morgengrauen heimlich nach Hause kommen und unterwegs Brötchen holen und klingeln und so tun als ob, weil man den Haustürschlüssel verloren hat. Das erste mal abgeholt von der Polizei vor meinem Haus – den Blick starr auf den fehlenden Fleck im Kopfsteinpflaster gerichtet – um den Nachbarn nicht in die Augen schauen zu müssen und sich ihm so scheiße verbunden fühlen.
Die Straße in der ich groß wurde, ist nicht mehr meine Straße. Denn ich bin gegeangen, schon vor langer, langer Zeit und wenn ich dadurch laufe – was ich selten tue, dann fühle ich nicht mehr das, was ich damals gefühlt habe. Ich fühle nichts, nicht einmal mehr Schmerz. Ich bin ein fremder in meiner Heimat – heimatlos.
Ich bin so ein anderer Mensch als damals und seither ist so viel passiert, dass ich fast das Gefühl habe, als wäre es ein anderer Mensch, der dieses Leben in dieser Straße gelebt hat.
Die Straße in der ich jetzt lebe hat einen Blumenladen, der verkauft süße Opium-Blumen an arabische Männer mit viel Geld und die Blumen die sie verkaufen, duften nicht. Der Bäcker an der Ecke verkauft nur trockenes Brot aber keine süßen Tüten, denn die kaufen die Leute sich jetzt im Supermarkt die Straße runter – an dem der Pfandautomat immer belegt ist, von kleinen Jungs die Flaschen für ihre Familien sammeln – oder rauchen sie auf der Parkbank gegenüber.
Immer wenn ich nach Hause komme, öffne ich die quietschende Blechtür meines Briefkastens – die ich irgendwann mal aufgebrochen habe, weil ich den Schlüssel verloren habe – aber meistens sind nur Rechnungen darin.
Meine perfekte Samstagskombi sind jetzt Kaffe und Kippe und jeden Samstag verkaufe ich Achmed von nebenan ein paar süßduftende grüne Blumen – und er lacht immer wenn ich gehe und nennt mich liebevoll seine kleine Blumenverkäuferin. Die Straße ist grau, laut und wild – trotzdem liebe ich sie so sehr, denn sie ist jetzt meine Heimat. Und wenn es nachts draußen stürmt, lausche ich dem prasselnden Regen auf dem Bushaltestellenhäusschen vor meinem Fenster und manchmal, an guten Tagen – lehne ich mich sogar so weit aus dem morschen Altbaufenster wie ich nur kann und dann schließe ich die Augen und lächele und hole tief Luft und dann – spucke ich bis nach Afrika.